Zieht ein Unternehmer von Deutschland in die Schweiz, fiel bisher in Deutschland auf dem Wertzuwachs seiner Firmenbeteiligungen eine Wegzugsbesteuerung an. Laut dem Europäischen Gerichtshof verstösst dies aber gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen Schweiz – EU.
Die Schweiz müht sich zurzeit mit der Frage ab, was vom vorgeschlagenen Rahmenabkommen mit der EU zu halten ist. Für die versprochene Fortführung und Weiterentwicklung des bilateralen Weges müsste die Schweiz einige Kröten schlucken. Dazu zählt die bedeutende Rolle der «fremden Richter».
Geht es um die Auslegung von EU-Recht, ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg die entscheidende Instanz. Dies verlangt das EU-Verfassungsrecht, und diesen Grundsatz verankert auch der vorgeschlagene Rahmenvertrag bei seinen Regeln zur Streitschlichtung.
Doch nicht alles mit Schweizer Bezug, was vom EuGH kommt, ist aus helvetischer Sicht des Teufels. Dies illustriert ein neues Urteil , datiert vom 26. Februar. Dabei geht es um die Praxis von Deutschland, in die Schweiz ziehende Besitzer von Firmenanteilen einer sofortigen Wegzugsbesteuerung zu unterstellen.
Betroffene müssen beim Wegzug in die Schweiz den Wertzuwachs auf wesentlichen Firmenbeteiligungen als Einkommen versteuern, obwohl sie die Beteiligungen gar nicht verkauft haben. Bei einem Wegzug aus Deutschland in einen anderen EU- oder EWR-Staat fällt keine sofortige Besteuerung an.
Freizügigkeit beschnitten
Ein in die Schweiz gezogener deutscher Informatik-Berater mit einer 50%-Beteiligung an einer Schweizer Gesellschaft erhob Klage, weil die Wegzugsbesteuerung die Niederlassungsfreiheit beschränke und damit gegen das Abkommen Schweiz – EU zur Personenfreizügigkeit verstosse.
Das zuständige Finanzgericht in Baden-Württemberg ersuchte den EuGH um einen Vorabentscheid zur Auslegung des Freizügigkeitsabkommens (FZA) Schweiz – EU. Das EuGH-Urteil betont zunächst, was man in der Schweiz gerne hören dürfte: Die Schweiz sei nicht dem EU-Binnenmarkt beigetreten – deshalb könne die Auslegung der EU-Regeln über den Binnenmarkt «nicht automatisch auf die Auslegung des FZA übertragen werden, sofern dies nicht in diesem Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen ist».
Doch auch das Abkommen Schweiz – EU enthält Garantien für die Freizügigkeit von Erwerbstätigen. Diese garantierte Freizügigkeit ist gemäss den EU-Richtern beeinträchtigt, wenn ein EU-Bürger in seinem Herkunftsland alleine aufgrund der Ausübung seines Freizügigkeitsrechts einen Nachteil erleidet.
Die deutsche Wegzugsbesteuerung sei ein solcher Nachteil im Vergleich zu einem EU-Bürger, der seinen Wohnsitz in Deutschland beibehalte. Bei Verzicht auf einen Wegzug würde die Besteuerung der Wertzuwächse der betroffenen Firmenanteile erst beim Verkauf der Anteile anfallen. Das Urteil wertet diese Ungleichbehandlung als Einschränkung der Niederlassungsfreiheit.
Eine solche Einschränkung ist laut EU-Rechtsprechung zulässig, wenn vier Bedingungen erfüllt sind: Es gibt zwingende Gründe des Allgemeininteresses, die Einschränkung ist diskriminierungsfrei, sie muss zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein und darf nicht über das Nötige hinausgehen. Die gleichen Rechtfertigungsgründe gelten EU-intern auch für die Einschränkung der anderen Grundfreiheiten (für Waren, Dienstleistungen und Kapital).
Unverhältnismässig
Im vorliegenden Fall umfasste das diskutierte Allgemeininteresse die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis auf Deutschland und die Schweiz sowie die Wirksamkeit der deutschen Steuererhebung. Laut dem Urteil könnte Deutschland sein Besteuerungsrecht auch ohne Wegzugsbesteuerung sicherstellen.
Die Richter verweisen auf das Doppelbesteuerungsabkommen Schweiz – Deutschland, aufgrund dessen Deutschland von der Schweiz die nötigen Informationen im Fall eines Verkaufs der betroffenen Firmenanteile des Klägers erhalten könne. Und für die Sicherung der Einziehung künftiger Steuerschulden ist laut Gericht eine sofortige Wegzugsbesteuerung nicht nötig und damit unverhältnismässig. Somit stellt laut den Richtern das deutsche System der Wegzugsbesteuerung von Betroffenen, die in die Schweiz ziehen, eine «ungerechtfertigte Beschränkung» des im Freizügigkeitsabkommen vorgesehenen Niederlassungsrechts dar.
Ein Steuerberater aus München begrüsste das Urteil – «im Hinblick darauf, dass die Schweiz das Auswanderungsland Nr. 1 der Deutschen ist». Laut dem Berater werden die steuerlichen Hürden eines Wegzugs für Betroffene nun «deutlich reduziert». Gewerkschafter mögen die Sache mit anderen Augen sehen.
Das Urteil illustriert indirekt das Gewicht der EU-Grundfreiheiten für das EuGH. Gewerkschafter in der Schweiz wie in der EU geben sich in der Sonntagsschule gerne «europäisch», doch an Werktagen geht für Arbeitnehmervertreter aus Hochlohnländern die Sicherung des nationalen Lohnniveaus vor. Auch im EU-Recht gilt das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort», aber das hohe Gewicht der EU-Grundfreiheiten ist Gewerkschaftern suspekt.
Quelle: NZZ